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Die Truhe

„Du liebe Zeit! Ich bin auf den Hund gekommen!“, dachte ich, als ich gestern Nacht im Dunkel lag.

Das neue Jahr hat begonnen und in diesen ersten Tagen habe ich getan, was ich meistens tue. Ich habe so meinen Rhythmus. Wann ich aufstehe, Dinge erledige, esse, spazieren gehe. Auch was ich denke, hat seinen Rhythmus. Und die Schlüsse, die ich aus meiner Selbstunterhaltung ziehe, sind vorhersehbar. Letztes Mal waren es die gleichen. Ich ärgere mich über die selben Begebenheiten wie letzten Monat und auch die Sachen die ich mir vornehme, sind alte Bekannte.

Doch gestern lag ich nach einem dieser scheinbar „Nicht-neuen-Tage“ abends in meinem Bett und mir wurde mit einem Schlag bewusst, dass sich unter der Oberfläche meiner Gewohnheit die undefinierbare Wucht des Lebens befindet.

Und es schert sich nicht im Geringsten um meine gesammelten und verlorenen Schätze und schon gar nicht um das, was ich für sicher hielt.

Ich habe die Truhe meiner Identität und Gewohnheiten immer wohl bewacht und versucht, sie in Ordnung zu halten. Doch jetzt ist sie plötzlich leer.

 

Jedes Leben wäre möglich, doch ich weiß davon nichts. Ich war damit beschäftigt, meine Scherflein zu behüten. Meine Erfahrungen schienen mir wichtig, ebenso wie die Namen, die ich mir gegeben habe. Ich habe mich damit abgefunden, manche Dinge gut zu können und andere gar nicht. Sollte mal etwas Wildes aus mir hervorgebrochen sein, hatte ich es schnell unter Kontrolle. Ich hatte alle Bewegung gut im Blick, damit ich nur ja nicht umgerissen werde vom Leben. Dabei berührt es mich so sehr, wenn Menschen hemmungslos laut weinen oder unverblümt aussprechen, was sie denken. Das Direkte, Unvermittelte ohne Angst macht meine Lungen weit. Ich kann Atem holen. Doch ich lebe ein höfliches Leben. Ich habe mich in der Vorsicht eingerichtet.

 

Wenn ich am Meer bin, erinnert sich das Leben in mir. Deshalb bin ich so gern dort. Nicht an den sanften, türkisen Stränden, sondern da wo es tost. Wo es rauscht und schäumt und kracht, sich auftürmt und in der Welle bricht. Dort wo der Sturm die Gedanken wegfegt, noch bevor sie entstehen. Inmitten der Elemente. Da bin ich gern.

Ich mag Gewitter, Blitz und Donnergrollen. Regengüsse.

Wenn der Klang eines Musikstückes mich überwältigt, bin ich wieder bei mir. Bei dem, was ich nicht kenne und nicht weiß. Wenn ich von einem mir vertrauten Menschen das erste Mal etwas höre, was ich noch nie gehört habe. Wenn er mir neu ist, wie ein unerträgliches Wunder – dann bin ich wieder bei mir.

 

Die Wahrheit ist, dass ich nichts vom Leben weiß. Jede meiner Möglichkeiten hat andere ausgeschlossen. Jede Wahl hat mich vergessen lassen. Dieses will ich haben, anderes will ich nicht. Dort will ich sein, da aber nicht. Alles soll seine Ordnung haben. Am besten meine. Ich bin auf den Hund gekommen. Auf den Grund meiner wohlbehüteten Truhe. Sie ist leer. Darunter befindet sich die Wucht des Lebens.

 

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