Im Südwesten der Stadt, gleich hinter den sanften Hügeln, bei den alten Bäumen, stand eine kleine Bank. Ichweißnichtwer hatte sie eines Tages dorthin gestellt. Recht unscheinbar war sie. Von der Ferne konnte man fast den Eindruck haben, sie würde auf jemanden warten. Sie stand am Fuße einer großen Buche, deren Krone hoch in den Himmel ragte und die ihre Äste so weit ausbreitete, als wolle sie jemanden umarmen. Im Sommer waren die Blätter der Buche rot und wenn im Herbst der Wind kräftig wehte, geschah es nicht selten, dass ihr Rauschen Wanderer in den Schlaf wiegte, wenn sie dort ausruhten.
Jahr für Jahr stand das Bänkchen unter der großen Buche und Licht und Schatten tanzten durch die Zweige und Zeiten. Dem sanften Frühling folgte der flirrende Sommer und den Herbststürmen folgte des Winters Schlaf.
Das Holz des Bänkchens war noch immer fest und es duftete sogar, doch die Wetter hatten seine Farbe ausgeblichen und es knarzte schon ein wenig, wenn sich jemand darauf setzte. Hinten an der Lehne konnte man zwei Flügel erkennen, fein geschnitzt und etwas verwittert. Es war kein Geheimnis. Eher etwas, dass so offensichtlich war, dass jeder daran vorbei ging, ohne es zu bemerken. Die Wenigen, die mehr darüber wussten, erzählten es sich im Flüsterton, zwischen zwei Geräuschen.
Man erzählte sich, eines Tages sei an einem kalten Winternachmittag ein Junge hinausgegangen aus der großen Stadt, geradewegs nach Südwesten zu den alten Bäumen hinter den Hügeln, um dort Misteln zu schneiden. Er zog einen klapprigen Handwagen hinter sich her, damit er später alles gut nach Hause bringen konnte. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen und immer wieder musste er stehenbleiben, um Atem zu holen. Als er endlich zu der großen Buche gelangte, war er schon so erschöpft, dass er beschloss, ein Weilchen auf der Bank auszuruhen die darunter stand. Über sich, weit oben, sah er die schönsten Misteln hängen. „Wie soll ich da nur hinaufkommen?“, fragte er sich und hielt nach Ästen Ausschau, an denen er sich hinaufziehen und hochklettern konnte. Er saß ….mit dem Rücken an die Bank gelehnt.. und während er nach oben schaute, war ihm, als würde der Wind seine Gedanken forttragen. Er hörte nur noch ein leises Säuseln. Seine Hände lagen jetzt wie offene Schalen in seinem Schoß und die Lider wurden ihm ganz schwer. Ein wohliges Seufzen konnte man noch hören und dann schlief der Junge ein.
Er träumte, ein Engel stünde hinter ihm. Nicht viel größer als er selbst und mit grünen Flügeln. Der Engel schmunzelte, berührte ihn an der Schulter und während er seine nicht so großen Flügel hob, rauschte es mehr als man vermutet hätte. Flugs drehte er sich herum zum Stamm des Baumes und rief: „Du großer Baum, komm schüttel dich, wirf alle Misteln ab für mich!“ Kaum hatte er zu Ende gesprochen, hörte man ein erstes Rascheln und leise segelte ein Mistelzweig zu Boden. Dann noch einer und noch einer. Es dauerte nicht lang, da lagen hunderte grüne Mistelzweige im weißen Schnee. Frisch und unversehrt.
Ein Klang, wie der einer hellen Glocke, weckte den Jungen bald auf.
Als er zu Boden sah, traute er seinen Augen kaum. Über und über war der Schnee bedeckt von Mistelzweigen. Er sah zum Wipfel der Buche hinauf und sah keine einzige Mistel mehr dort hängen. Jeder einzelne Zweig lag vor ihm.
Schnell sammelte er alles ein, packte es in seinen Handwagen und stapfte nach Hause. Vom Verkauf der Misteln konnte seine Familie gut über den Winter kommen und sogar für einen Weihnachtsschmaus war noch etwas übrig.
Seither erzählt man sich im Flüsterton, zwischen zwei Geräuschen wie gesagt, hier und da...ganz selten diese Geschichte. Und zwar immer genau dann, wenn jemand so aussieht, als könne er einen Engel brauchen. Einen der nicht viel größer ist, als er selbst. Mit grünen Flügeln.
Geht er hinaus zu den alten Bäumen und zu der kleinen Bank, träumt er einen wundersamen Traum. Wacht er auf, ist ihm frisch und leicht ums Herz. Und sei es klein oder groß, immer wurde ihm etwas gegeben.
Also lausche zwischen zwei Geräuschen. Vielleicht erzählt Dir jemand wo du sie findest, die kleine Bank...
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Monika (Freitag, 06 Dezember 2024 20:49)
Wunderschöne und hoffnungsvolle Geschichte....ein Märchen für Groß und Klein...danke liebe Frauke
Petra (Samstag, 07 Dezember 2024 09:08)
Guten Morgen liebe Frauke,
wirklich wunderbar. ❤️Danke und gerne mehr davon.
Petra ⭐
Ulrike (Sonntag, 08 Dezember 2024 13:10)
Sehr schöne Geschichte, liebe Frauke. Ich hoffe, hier im Norden gibt es ebenfalls solch Bänkchen. Einen schönen 2 Advent wünsche ich dir ❤️